Individuelle Reedukationsmöglichkeiten aus 25-jähriger Erfahrung im Umgang mit
Musikerdystonie – Fokaler Dystonie
copyright 2023: Joachim Schiefer – Artikel auch als pdf in der Bibliothek
Musikerdystonie
Unter einer Dystonie versteht man eine plötzlich auftretende und meist schmerzfreie organisch neurologische Bewegungsstörung. Dystonien entstehen in den motorischen Zentren des Gehirns. Charakteristisch sind unwillkürliche Muskelverkrampfungen, die zu nicht mehr kontrollierbaren Bewegungsabläufen führen. Bei der Symptomatik der Musikerdystonie treten die Verkrampfungen aufgabenspezifisch in einzelnen Muskeln oder Muskelgruppen auf, welche maßgeblich bei lange geübten und hochkomplexen Bewegungsabfolgen der jeweiligen Instrumentaltechnik beteiligt sind.
Eigene Erfahrungen mit Musikerdystonie
1994 verlor ich während einer CD-Produktion die Kontrolle über die Vibratobewegung am Cello. Ein siebenjähriger von G.O. van de Klashorst angeleiteter Lernprozess half mir bei der vollständigen Überwindung der Symptomatik, sodass ich seit 2001 wieder als Cellist konzertieren kann. Die aus dieser Zeit stammenden Erfahrungen, meine erfolgreiche Arbeit mit mehr als 40 professionellen Musikern mit gleicher Symptomatik und hunderten Musikern mit anderweitig gelagerten Spielproblemen bilden die Grundlage dafür, individuelle Lösungsstrategien zu entwickeln. Ich betone, dass meine Arbeit weder medizinische Kompetenz beinhaltet noch wissenschaftlich basiert ist und allein auf empirischer Erfahrung fundiert.
Komplexe Ausgangslage
Als ehemals selbst Betroffener weiß ich, wie schwer es für jeden Musiker ist, an den Symptomen einer Musikerdystonie zu leiden. Niemand, der es nicht erleben musste, kann wohl gänzlich nachvollziehen, wie es einem Berufsmusiker dabei geht und welche verheerenden Auswirkungen diese Diagnose auf fast alle Bereiche des Lebens hat. Nichts ist mehr so, wie es war, und alles wird infrage gestellt. Es braucht sehr viel Zeit zu verstehen, dass bestimmte für das Spiel notwendige Bewegungen nicht mehr zuverlässig kontrollierbar sind. Und es braucht noch mehr Zeit zu akzeptieren, dass das bei dieser Diagnose zunächst so bleiben wird. Jeder Versuch, aus eigener Kraft und mit den gewohnten Mitteln durch Üben dagegen anzukämpfen, ist bei einer Musikerdystonie leider zum Scheitern verurteilt.
Suche nach Hilfe
Die Suche nach Hilfe gestaltet sich schwierig. Es gibt zwar immer mehr Veröffentlichungen zu der Thematik gerade auch im Internet, aber leider ist das Web auch in dieser Hinsicht ein redaktionsloser Raum. Für mich ist es erwiesen, dass ein Versprechen auf schnelle Hilfe unseriös erscheinen muss, da Musikerdystonien hochkomplex sind. Glücklicherweise liefert die Musikermedizin fundierte Studien, welche diese Komplexität belegen und die daraus resultierende Problematik hinsichtlich zuverlässiger Therapieansätze und Möglichkeiten für Reedukation und Retraining beschreiben.
Es ist mir wichtig darauf hinzuweisen, dass keine Musikerdystonie einer anderen gleicht. Jede Symptomatik gestaltet sich unterschiedlich. Daraus resultieren Unterschiede im Lösungsansatz und in der Dauer für diesen Prozess. Und ich möchte betonen, dass nicht jede unwillkürliche Bewegungsstörung am Instrument eine Dystonie sein muss. Musikerdystonien entwickeln sich glücklicherweise äußerst selten.
Neulernen
Ich bin davon überzeugt, dass es bei einer schweren Dystonie nicht möglich ist, das motorische Muster, welches nicht mehr zu kontrollieren ist, zu reparieren, zu löschen oder umzuprogrammieren. Ich selbst kann auch heute noch nach mehr als 25 Jahren (wenn ich will) auf das „Fehlmuster“ zugreifen und erlebe dann genauso wie damals, dass die Bewegung nicht kontrollierbar ist. Daher besteht mein Angebot für nachhaltige Hilfe nicht im Umlernen, sondern im Neulernen von Bewegungsabläufen. Das klingt zunächst paradox, weil der betroffene Musiker ja schon alle notwendigen motorischen Bewegungsabläufe an seinem Instrument erlernt und verinnerlicht hatte. Es ist unter bestimmten Voraussetzungen möglich, das gleiche Ziel – also den selben instrumeltalmotorischen Bewegungsablauf – mit sehr unterschiedlichen Bewegungsvorstellungen und mit erheblich reduzierter Kraft zu erreichen. Das Neuerlernen solcher instrumentalspezifischer Bewegungsabläufe ist ein hochkomplexer Prozess, der Zeit fordert. Daher ist es außerordentlich wichtig, zunächst zusammen mit dem Musiker zu ergründen, ob ein Neulernprozess für die jeweilige Symptomatik nach Analyse der Gesamtmotorik möglich und sinnvoll erscheint. Hierbei müssen selbstverständlich auch die Lebensumstände, mentale Verfassung und existenzielle Situation berücksichtigt werden. Da unglaublich viele Faktoren von Bedeutung sind, ist es mir hier leider unmöglich, globale Prognosen über Erfolg und Dauer eines solchen Lernprozesses abzugeben. Es gibt Neulernprozesse, die fünf bis sieben Jahre dauerten, es gibt aber auch Bewegungsstörungen mit der gleichen Diagnose – welche ich jedoch eher zu schweren motorischen Stereotypen zählen würde – die viel schneller (6-18 Monate) überwunden werden konnten. Für den betroffenen Musiker macht eine solche Unterscheidung zunächst keinen Unterschied, da er durch die Symptome dermaßen beeinträchtigt ist, dass er sein Instrument nicht mehr professionell beherrscht. Es ist für ihn unerheblich, dass Abstufungen für diese Symptomatik auch in der Musikermedizin beschrieben werden. Sein Kontrollverlust – wie ausgeprägt er sein mag – macht sein Leben zum wahr gewordenen Albtraum. Dennoch soll es Mut machen festzustellen, dass die Zahl von betroffenen Musikern stetig steigt, die durch die hier angebotenen Möglichkeiten zum Neulernen ihre Spielfähigkeit vollständig wiederherstellen konnten und dass die dafür notwendigen Prozesse nicht zwingend sieben Jahre dauern müssen.
Strategie
Ich will versuchen, mit dem folgenden Beispiel ein Gefühl dafür zu vermitteln, worin mein Ansatz für den Umgang mit Fokaler Dystonie – Musikerdystonie besteht:
Stellen Sie sich Ihr Auto vor. Die motorischen Vorgänge, welche zum sicheren Fahren nötig sind, haben Sie seit Jahren oder gar Jahrzehnten automatisiert. Und so soll es ja auch sein. In einer Gefahrensituation reagieren Sie schneller, als Sie denken können. Jetzt stellen Sie sich vor, in Ihrem Auto hätte man über Nacht die Brems- und Gaspedale vertauscht. Wenn ich Sie in Ihrem Wagen auf ein freies Fußballfeld bringe, würde es Ihre Intelligenz nach einiger Zeit schaffen, die neue Bedienung der Pedale zu verstehen. Sie könnten wohl auch in gemütlichem Tempo eine Runde drehen und danach langsam abbremsen. Wenn ich Sie nun aber in die Innenstadt von Paris mitten in den Feierabendverkehr fahren lasse, wäre es nur eine Frage von Sekunden bis zu Ihrem ersten Unfall. Das lang eintrainierte Bewegungsmuster zum Bremsen würde Sie unweigerlich in dem neuen Auto zum Gasgeben veranlassen, ohne dass Sie das wollten und ohne dass Sie das verhindern könnten.
So ist das mit der Dystonie, sie schlägt schneller zu, als man denken kann. Schlimmer noch, auch wenn man Zeit zum Denken hätte, würde sie zuschlagen. Und der betroffene Musiker weiß zunächst nicht, dass bestimmte Pedale vertauscht wurden oder nicht mehr vorhanden sind. Sein Körper ist derselbe und sein Instrument ist unverändert, nur leider reagiert die Steuerung nicht mehr so wie gewohnt.
Ich bitte Sie, sich nun noch einmal zurück in Ihr Auto zu begeben. Was wäre, wenn Sie ein völlig neuartiges Auto bekommen hätten, in dem keine Pedale mehr vorhanden sind. Die gesamte Steuerung funktioniert über ein Touchpad, was mit den Fingern zu bedienen ist. Bestimmte Fingerbewegungen steuern das Beschleunigen und Abbremsen des Gefährts. Ich denke, wir sind uns darin einig, dass Sie in diesem Wagen schneller lernen könnten, sicher zu fahren, da alles neu ist. Es fühlt sich unvertraut an und reagiert nicht auf die alten Steuerungen. Sie haben die Chance, neue Bewegungsgefühle mit den notwendigen Funktionalitäten zu koppeln. Und daher könnten Sie relativ schnell lernen, sicher zu fahren. Wohl würden Sie bei dem einen oder anderen Bremsmanöver wahrscheinlich noch mit Ihrem Fuß in den Boden treten, aber die neue Bremsfunktion würde dadurch nicht behindert werden.
Meine Aufgabe im Umgang mit einer Musikerdystonie liegt also darin, einen Musiker davon abzulenken, dass er gerade Geige spielt und es ihm dadurch zu ermöglichen, neue Bewegungsgefühle zu erlernen, die am Ende dazu führen, dass die Geige so klingt, wie er es möchte. Dabei spielt es eine große Rolle, dass instrumentalspezifische Bewegungen von Musikern ungeheuer komplex im Gehirn vernetzt sind. Um ein Neulernen von Bewegungen zu ermöglichen, ist es förderlich, Teile dieser Vernetzung zu ändern. Und hier kommt der Prämotorik eine entscheidende Rolle zu.
Die Bedeutung der Prämotorik
Was geschieht in der Prämotorik? Unser Gehirn sammelt vielfältigste Informationen vor der eigentlichen Bewegung. Auf der Auswertung dieser Informationen basiert das Bewegungsprogramm. Wenn es möglich ist, entscheidende Aspekte der Prämotorik dauerhaft zu ändern, wäre ein notwendiger Schlüssel gefunden, der die Tür zum Neulernen aufschließt. Und hierfür ist die Kompetenz der Dispokinesis bezüglich Körperhaltung von ungeheurem Nutzen. Mit den Übungen der Urgestalten von Haltung und Bewegung nach G.O. van de Klashorst kann Musikern ein optimiertes Haltungsbewusstsein vermittelt werden, welches die Prämotorik am Instrument dahingehend ändert, dass darauf aufbauend ein Neulernen von feinmotorischen Bewegungsmustern möglich wird. Wir wollen erreichen, dass sich die für das spätere Instrumentalspiel vorbereitende Körperhaltung anders anfühlt, als die bislang damit verbundene Gewohnheit und können so die prämotorischen Informationen von den damit vernetzten Bewegungsprogrammen am Instrument entkoppeln.
Spielpause
Es hat sich bewährt, zunächst für etwa 2-3 Monate ganz ohne Instrument mit den Übungen der Urgestalten von Haltung und Bewegung nach G.O. van de Klashorst zu arbeiten. Wenn möglich, ist in dieser Zeit eine völlige Spielpause anzuraten, um den Kreis ständiger Enttäuschungen und negativer Erfahrungen zu durchbrechen. Durch die Spielpause fallen Erfolgsdruck und die dauernde Enttäuschung seit langer Zeit erstmalig weg, was in der Regel zu einer günstigeren Prognose in der weiteren Arbeit führt. Die Urgestalten von Haltung und Bewegung sind Übungen, die am Boden beginnen und sich an der Entwicklung des Menschen vom Liegen bis zum aufrechten Gang orientieren und ein ursprünglich-funktionales Haltungs- und Bewegungsgefühl sowie eine natürliche Atmung zum Ziel haben. Mit diesen Übungen kann der Musiker seine Eigenwahrnehmungsfähigkeit verfeinern, seine Körperhaltung optimieren, den Einfluss von Haltung auf Bewegungen und Atmung erfahren, Unterschiede in der Effizienz von Bewegungen erleben, seine gesamte Motorik disponieren und damit auch sein allgemeines Lebensgefühl verbessern. Alle hier gemachten Erfahrungen bilden die Grundlage für die spätere Arbeit am Instrument. Bei Bläsern mit Lippen- oder Ansatzdystonien liefert diese Änderung gleichzeitig die Grundlage für eine Neujustage der Atmung, was die spätere Möglichkeit zur Entkopplung lang eintrainierter Muster im Ansatz eröffnet.
Ein erster Schritt
Die Änderung der Prämotorik ist ein erster und für den folgenden hochkomplexen Prozess des Neulernens absolut notwendiger Schritt. So wie bei unserem Beispiel mit dem Auto der Weg zur sicheren Fahrt in der Rushhour von Paris lange dauert, erfordert der Lernprozess neuer spielmotorischer Vorstellungen Zeit, Langmut, Neugier, mentale Stärke und im besten Fall auch viel Humor.
Ich möchte betonen, dass es nicht um das Aneignen veränderter äußerer Formalismen in Fingerstellung, Armposition oder Spielwinkeln geht. Der Schlüssel zum Erfolg liegt im Fokus auf das Gefühl, welches vor und während einer Bewegung erlebbar ist. Wenn es gelingt, den Unterschieden im Gefühl Wertschätzung entgegenzubringen, können daraus neue Vernetzungen im Gehirn entstehen.
Feinmotorisches Bewusstsein
Immer noch unabhängig von jeglicher Instrumentaltechnik, aber unter Nutzung des neu erworbenen Haltungsbewusstseins, werden nun grundlegende feinmotorische Bewegungsgefühle erlebbar gemacht. Der Unterschied zwischen grob- und feinmotorischer Bewegungsinitiative hinsichtlich benötigter Energie, Präzision und Wiederholbarkeit wird mit einfachen Übungen vermittelt. Diese Erlebnisse führen zu einer ersten positiven Wahrnehmung. Wir erleben, dass die von der Symptomatik betroffene Muskulatur hier nicht gehindert ist. Seit langer Zeit kann jetzt erstmalig wieder erlebt werden, dass die von der Dystonie betroffenen Hände oder Finger nun in gleicher Weise wie die der anderen Seite lernen können und sich dabei frei und ungehemmt anfühlen. Die Negativkonditionierung in der Wahrnehmung wird hier erstmalig durchbrochen.
Transfer zum Klang
Alle bisherigen Erfahrungen werden nun auf ein emotional unbelastetes Instrument angewendet. Ein Klavier eignet sich dafür besonders gut. Es sollen feinmotorische Bewegungsgefühle für die Klanggestaltung erlernt, wobei wir uns zunächst auf einzelne Töne beschränken. Ein Vergleich des Spielgefühls von rechter und linker Hand lässt erleben, dass der Musiker mit seiner „schlechten“ Hand die Übungen ungehindert umsetzen kann. Hierbei ist es wichtig, dass er niemals mit dem Ziel von „Perfektion“ an die Sache herangeht! Bei Pianisten kann man kleine Trommeln, Glöckchen, Kinderinstrumente oder Ähnliches anstelle des vertrauten Klavieres benutzen. Bei Ansatzdystonien benutzen wir ein großes Arsenal von Mundstücken und Hilfen wie abgeschnittene Luftballons, Strohhalme, Tröten oder Glasflaschen, um die Führung des Luftstroms unabhängig vom gewohnten Ansatzgefühl erlebbar zu machen. Auch hier kann erreicht werden, dass die Lippen erstmalig nicht auf die an ihnen vorbeiströmende Luft reagieren.
In dieser Arbeit kommen wir zu dem Punkt, an dem wir hemmenden Einflüssen auf die Feinmotorik begegnen. Das sind in der Regel Ehrgeiz, Ungeduld, Nervosität, Zeitdruck oder Zweifel und Ängste. Auch zu großer emotionaler Ausdruckswillen kann die Motorik verändern. Daher soll der Musiker nun damit beginnen, einzelne leichte Tonfolgen oder Melodien (auf einem ihm fremden Instrument) mit musikalischem Ausdruck zu spielen. Er lernt, wie es möglich ist, unter innerer und äußerer Belastung, die Motorik nicht zu verändern.
Das eigene Instrument
Jetzt kann mit der Arbeit am eigentlichen Instrument begonnen werden. Möglicherweise erlebt der Musiker diese Situation sofort anders als alles Bisherige. Jetzt scheint es um das Eingemachte zu gehen, jetzt gerät das eigentliche Problem erneut in den Fokus. Es ist wichtig, diese Situation und mögliche negative Auswirkungen auf bislang Erlerntes begleitend zu verarbeiten und den steigenden Druck zu reduzieren.
Zunächst optimieren wir die Instrumentalergonomie mit dem Ziel, dass sich auch hier das „Auto“ möglichst anders anfühlt als bislang gewohnt. Nicht selten greife ich auch auf präparierte Instrumente aus meinem Fundus zurück. So gibt es Streichinstrumente ohne Griffbretter, ohne Saiten und vieles mehr.
Wir passen das Instrument an die individuelle Anatomie des Musikers an und vermeiden haltungsbedingte unnötige Muskelspannungen. All dies soll von alten, lang eingeübten Spielgefühlen ablenken.
Wir dürfen nicht vergessen, dass für professionelle Musiker die Klangerzeugung auf dem Instrument in seiner Gesamtheit mit einem Lebensgefühl gekoppelt ist. Hier liegen Schwierigkeit und Chance gleichermaßen dicht beisammen. Nimmt man einem Musiker das gewohnte Lebensgefühl, fühlt er sich zunächst in seiner inneren Ausdrucksfähigkeit und der Intensität von Klanggestaltung behindert, eingeschränkt oder beraubt.
Schafft man es aber, das Instrument aus einem ganz anderen Grundgefühl heraus zu spielen und lässt der Musiker es zu, dass es sich einfacher und somit besser anfühlt, erinnert wenig an die gewohnten Pfade, und er ist eher in der Lage, alte Muster zu umgehen. In anderen Worten, wenn ich nicht mehr an mein Instrument denke und es sich fremd anfühlt, kann ich es schaffen, dass das Fehlmuster sich nicht zeigt, da die veränderte Prämotorik nicht mehr zu dem Muster passt.
Selbstanalyse
Nun wird die Selbstanalyse der ursprünglich erlernten motorischen Muster an dem eigenen Instrument unter Verwendung aller bislang gemachten Erfahrungen möglich. Es können unnötige, hemmende oder grobmotorische Vorstellungen mithilfe von Bildern, die zu feinmotorischen Bewegungsgefühlen führen, ersetzt werden. Es wird vermittelt, wie das Instrument physikalisch funktioniert, wodurch Dynamik und Klangfarben nuanciert werden und wie wenig Kraft dazu notwendig ist. So wird ein Gefühl von Leichtigkeit in der Instrumentaltechnik erlebbar. Der Musiker wäre nun unter Anleitung fähig, seine gesamte Spieltechnik zu hinterfragen und da, wo „unnötige Kraft“ erkannt wird, motorisch effektivere Bewegungsmuster neu zu erlernen. Dafür sind oft Langmut und Humor des Musikers gefragt. Es besteht die Gefahr, in dieser Phase in Selbstzweifel, ja auch Wut und Verzweiflung zu fallen. Die Erkenntnis, dass es für die Bedienung des Instrumentes erheblich effektivere Wege gegeben hätte, belastet zunächst sehr. Die Schuldzuweisung an sich selbst und auch an Lehrer ist verständlich, aber letztlich für den Neulernprozess völlig unerheblich und auch nicht gerechtfertigt. Jeder Lehrer wird im besten Sinn immer das vermitteln, wovon er der Meinung ist, dass es richtig und förderlich ist. Kein Lehrer wird jemanden bewusst in motorische Sackgassen lenken wollen.
Emotionale Trigger
Meist ist es nach einiger Zeit möglich, unmusikalische einfache Tonfolgen wie Tonleitern oder Akkorde zu spielen, ohne dass das Fehlmuster greifen will. Jetzt ist es an der Zeit, die neue Spielweise in der Praxis und mit Musik zu erproben. Es kann sein, dass der Musiker nun Rückschläge erfährt. Scheinbar geht plötzlich nichts mehr. Der Wunsch, wieder Musik machen zu können, bewirkt, dass sich alles in der Prämotorik an die früheren lang eingeübten Muster erinnert. Gelingt es, dies im Voraus zu verhindern, wird das Fehlmuster verschwinden können.
Videofeedback
Oft arbeiten wir nun mit Videofeedback. Es besteht häufig eine Diskrepanz für den Musiker zwischen erlebtem Gefühl und tatsächlichem hörbaren Ergebnis. Wenn es gelungen ist, die Muskelenergien entscheidend zu reduzieren, fehlt dem Musiker zunächst immer etwas. Er meint in diesem Stadium, dass das, was sich nach weniger anfühlt, auch weniger gut oder intensiv klingen muss. Jetzt hilft das Videofeedback ungemein, da der Musiker später sehen und hören kann, wie sein Spiel objektiv wirkt. Er kann lernen, seinem neuen musikalischen Lebens- und Spielgefühl zu vertrauen.
Ein letzter Schritt
Ein letzter Schritt beinhaltet die Konditionierung des Vertrauens auf die neu erworbenen Fähigkeiten in Hinsicht auf dauerhafte Funktionalität (Angst vor Rückfall) und musikalischer Ausdrucksfähigkeit. Auch müssen Übegewohnheiten ständig hinterfragt werden, damit nie mehr mechanisches Training die Basis für Perfektion bilden soll.
Ein solcher Neulernprozess ist komplex und in mancher Hinsicht auch belastend. Die Erfahrung zeigt aber auch, dass Musiker nach erfolgreichem Durchlaufen neben der so erreichten vollständigen Wiederherstellung ihrer Spielfähigkeit eine ungeahnte Erweiterung ihrer Fähigkeiten am Instrument und eine nie für möglich gehaltene Entlastung in ihrem Beruf erleben. So nehme ich meine eigene, durch die Musikerdystonie ausgelöste schwere Lebenskrise, jetzt im Nachhinein als eine großartige Chance zur Erweiterung meiner Fähigkeiten und zur Aneignung von faszinierendem Wissen wahr.
Beispiele für Musikerinnen und Musiker, die durch einen Neulernprozess ihre Spielfähigkeit vollständig wiedererlangen konnten:
Geige:
– Kontrollverlust in drittem und viertem Finger der linken Hand durch unwillkürliches Einkrampfen
– Verlust der Richtungskontrolle in der Mitte des Bogens durch unwillkürliche Bewegungen im Oberarm
– Verlust der Kontrolle über die Vibratobewegung
– Festlaufen und Krampfen im Oberarm bei schnellen Stricharten wie Sautillé und Spiccato
– Plötzliches Krampfen im Handgelenk links, wodurch kein sicheres Aufsetzen des dritten Fingers möglich ist
– Unwillkürliche Streckbewegung des ersten Fingers der linken Hand
Bratsche:
– Geschwindigkeitseinbuße und Koordinationsverlust bei Trillern in der linken Hand
– Verlust der Kontrolle über die Vibratobewegung, Finger kann nicht schwingen
Cello:
– Verlust der Kontrolle über die Vibratobewegung
– Keine schnellen Stricharten mehr möglich durch Daumenblockade rechts
– Bogenzittern durch Krampf im Oberarm
– Dystoner Tremor links hauptsächlich in hohen Lagen
– Kraftverlust im kleinen Finger der linken Hand
Dudelsack:
– Kontrollverlust und Geschwindigkeitseinbuße bei der e-Dubbing Bewegung
– Unwillkürliches Einkrampfen der Finger der rechten Hand
– Geschwindigkeitseinbuße des dritten Fingers links
– Geschwindigkeitseinbuße des dritten Fingers rechts
– Koordinationsverlust beim Verlassen der Töne
– Koordinationsverlust bei bestimmten Grifffolgen
Posaune
– Ansatzdystonie führt zu Unruhe in der Lippenmuskulatur
– Lippenzittern bei hohen Tönen
Tuba:
– Lippendystonie führt zu Kontrollverlust der Tonerzeugung ab unterer Mittellage in die Tiefe
Trompete:
– Ansatzdystonie führt zu Lippenzittern
– Ansatzdystonie in hohen Langen
– Kontrollverlust bei gestoßenen Tönen ab Mittellage aufwärts
Horn:
– Ansatzdystonie mit zunächst Kontrollverlust in Mittellage, später totale Spielunfähigkeit durch krampfhafte Abstoßbewegung der Lippen
Schlagzeug:
– Bei Schlagbewegung krampft Handgelenk rechts
– Geschwindigkeits- und Präzisionseinbußen bei Fußmaschine rechts
Klarinette:
– Lippendystonie, kein stabiler Ansatz mehr möglich
– Geschwindigkeitsverlust im kleinen Finger der rechten Hand
Querflöte:
– Unwillkürliches Einkrampfen des dritten Fingers der linken Hand
– Unwillkürliches Einkrampfen des kleinen Fingers der rechten Hand
Englischhorn:
– Stetig steigende Spannung in rechter Hand, verlangsamte Triller und Verzierungen
Oboe:
– Unwillkürliches Einkrampfen des kleinen Fingers der rechten Hand
Klassische Gitarre:
– Kontrollverlust des zweiten Fingers der rechten Hand, Finger versteift sich unwillkürlich
E-Gitarre:
– Kontrollverlust durch unwillkürliches Einkrampfen der linken Hand bei Bendings
– Kontrollverlust durch unwillkürliches Einkrampfen von Daumen und Handgelenk rechts bei Plektrumspiel
Klavier:
– Unwillkürliches Einkrampfen des dritten Fingers der rechten Hand
– Unwillkürliche Beugebewegung im Handgelenk der rechten Hand
– Geschwindigkeitsverlust bei Trillern in der rechten Hand