Von der Urgestalt zur Bewegungskunst

Musikermotorik aus Sichtweise der Dispokinesis nach G.O. van de Klashorst
copyright 2023: Joachim Schiefer – Artikel auch als pdf in der Bibliothek

Berufsbedingte Musikerprobleme
Seit vielen Jahren ist bekannt und wird immer wieder durch Studien der Musikermedizin bestätigt, dass zahlreiche professionelle Musiker unter Verspannungen, Schmerzen und Spielproblemen leiden. Der Zeitpunkt, wann sich Probleme zum ersten Mal äußern, ist unterschiedlich. Nicht selten äußern sich bereits während der Ausbildung erste Anzeichen, werden von den jungen Musikern in der Regel jedoch als notwendiges, aber vorübergehendes Übel in Kauf genommen. Häufig kommt es im Alter zwischen Mitte zwanzig und Anfang dreißig zum ersten Mal zu plötzlich auftretenden Problemen, aus denen der Musiker von selbst keinen Ausweg finden kann. Ebenso kann es in den letzten Berufsjahren erstmalig zu Problemen kommen, welche das Spiel kurz vor der Verrentung stark beeinträchtigen. Schmerzen, Verspannungen und Spielprobleme sowie Atem- und Ansatzschwierigkeiten in jeglicher Ausprägung bedeuten für jeden Musiker immer auch eine Existenzgefährdung. So ist der Wunsch nach Prävention und nachhaltiger Hilfe nach wie vor omnipräsent.

G.O. van de Klashorst – Dispokinesis
Vor etwa 70 Jahren begann der junge niederländische Pianist und spätere Physiotherapeut G.O. van de Klashorst sich für die Ursachen musikerspezifischer Probleme zu interessieren. Er war gezwungen, seine eigene Karriere nach dem Verlust zweier Fingerglieder aufzugeben und widmete sein Leben fortan der Suche nach Möglichkeiten, professionellen Musikerinnen und Musikern die Ausübung ihres Berufes zu erleichtern. Sein Wissen versammelte er in der von ihm konzipierten Dispokinesis. Bis zu seinem Tod im Jahr 2017 konnte er viele tausend Musiker von ihren indisponierenden Symptomen dauerhaft befreien. Sein Ansatz folgt der Notwendigkeit, die Musikermotorik gesamtheitlich zu analysieren und dabei hemmende Aspekte aufzudecken. Gelingt es, dysfunktionale Aspekte, welche eine Überlastung zur Folge haben, durch effizientere Haltungs- und Bewegungsvorstellungen zu ersetzen, wird die eingesetzte Kraft entscheidend reduziert und der Grund der Überlastung ist genommen. Da alle Aspekte der Musikermotorik komplex im Gehirn miteinander vernetzt sind, gestaltet sich ein Umlernen als sehr aufwändig. Ein Erfolg kann nicht durch kosmetische Änderungen in Haltungsformen oder Anweisungen für alternative Bewegungen erreicht werden, da die Muster lang eingeübt und dadurch stereotyp sind.

Den Ursachen auf der Spur
Während des Heranwachsens, im Studium oder im Berufsleben kann es zu unbewussten Überlagerungen der ursprünglichen, natürlichen Körperhaltungs- und Bewegungsmuster durch indisponierende Einflüsse aus Vorgaben, Methoden oder Traditionen kommen. Für den jungen Künstler und seine Lehrer steht in der Pädagogik eine Progression des hörbaren Ergebnisses im Fokus. Mögliche indisponierende Faktoren werden nicht als solche erkannt, da ein eigenverantwortliches und präventiv wirkendes Bewusstsein nicht in der Sensomotorik verankert wurde. Je nach individueller Begabung und Belastbarkeit kann es in jungen Jahren gelingen, eine beeindruckende Virtuosität zu erlangen. Wenn sowohl Schüler als auch Lehrer mit den hörbaren Fortschritten zufrieden sind, besteht keine Notwendigkeit, über Effizienz der jeweiligen Spieltechnik und somit auch der Motorik zu reflektieren. Die erreichte Progression im hörbaren Ergebnis scheint der angewendeten Methode Recht zu geben. Die so etablierten Bewegungsmuster sind im Gehirn hoch komplex vernetzt und verschmelzen zu ganzheitlichen Bewegungsgefühlen, welche maximalen Ausdruck, große Klangfülle und absolute Perfektion garantieren. Die Notwendigkeit der Zunahme von Kraft in der ausführenden Motorik für eine Steigerung an Klangfülle, Expression und Virtuosität, wurde verinnerlicht. Fataler Weise liegen darin nicht selten die Ursachen für mögliche spätere Probleme.

Nachhaltige Hilfe
Erst wenn es gelingt, die hemmenden Aspekte und ihre Verhaftung in der gesamtmotorischen Wahrnehmung spürbar werden zu lassen und  Musiker:innen zu befähigen die schädigenden Faktoren als solche zu erleben, wird eine nachhaltige Änderung der Spiel- und Atemmotorik möglich. Den Schlüssel, der diesen eigenverantwortlichen Umgang ermöglicht, fand G.O. van de Klashorst in den von ihm konzipierten Übungen, den Übungen der Urgestalten von Haltung und Bewegung. Sie eröffnen Möglichkeiten, gesamtmotorische Funktionalitäten wiederzuentdecken und sie als natürliche Grundlage für jegliche hochspezialisierte Bewegungsvorstellung am Instrument oder mit der Stimme zu nutzen. Dieses Zurücklernen ursprünglicher, individueller und daher nicht belastender Grundfunktionalitäten innerhalb der menschlichen Motorik bietet eine Chance auf nachhaltige Hilfe und Prävention.

Vom inneren Wissen zur Urgestalt
Jeder neugeborene kleine Mensch folgt einem bestimmten in ihm festgelegten Plan von für seine Haltung und Bewegung notwendigen Entwicklungsschritten, die ihn letztlich zum aufrecht gehenden Menschen befähigen. In dieser Zeit wird das kleine Kind nicht von seinem Verstand geleitet, sondern von dem durch die Evolution erworbenen, sicher urteilendem Gefühl, dem inneren Wissen. Dieses innere Wissen und die Reaktion auf intuitiv erlebte Haltungs- und Bewegungserfahrungen führen das kleine Kind zum Erwerb von Fähigkeiten, welche sich im Gefühl verankern. Die Summe der auf diese Weise erworbenen Fähigkeiten wird wiederum zu einem gesamtheitlichen Kompetenzgefühl. Führt dieses Gefühl zu einem entscheidenden Entwicklungsschritt, der die Voraussetzung für die weitere Entwicklung der Motorik darstellt, und wurden die in ihm versammelten Fähigkeiten außerhalb hemmender Einflüsse erworben, nennt G.O. van de Klashorst diese Kompetenz Urgestalt.

Gestalt
Jede menschliche Haltung und jede Tätigkeit äußert sich in einer Gestalt, wobei Gestalt nicht mit Form zu verwechseln ist. In einer Gestalt sind unzählige Informationen versammelt, die über Haltungs- oder Bewegungsformen weit hinausgehen. An seiner Gestalt ist etwa wahrzunehmen, wie es einem Menschen mental und physisch geht. Die Gestalt strahlt aus, ob der Mensch beispielsweise froh, betrübt, nachdenklich, zweifelnd, neugierig, interessiert, wach, müde, lustvoll, abgelenkt, enttäuscht, erschöpft, depressiv, euphorisch, gesund, kränkelnd, ausgeruht oder gar feindselig gestimmt ist. In der Gestalt sind das menschliche Wesen, Befindlichkeiten, Gesundheit, Alter, Emotionen und auch die Effizienz seiner Haltungen und Bewegungen vereint. Die menschliche Gestalt kann sich verändern, obwohl bestimmte Haltungs- oder Bewegungsformen gleich bleiben.

Urgestalt
In einer Urgestalt sind ursprüngliche Haltungs- und Bewegungskompetenzen des Menschen versammelt, welche sich in der Gestalt der jeweiligen Haltung oder Bewegung widerspiegeln. Die Urgestalten werden in den ersten Lebensmonaten ohne äußere Vorgaben und hemmende Einflüsse erworben und markieren die entscheidenden Entwicklungsschritte, welche die Grundlage und Voraussetzung zur weiteren Entwicklung innerhalb der menschlichen Motorik darstellen. Die in der Urgestalt verinnerlichte Kompetenz befähigt dazu, in der jeweiligen Haltung in angemessener Weise auf die Schwerkraft zu reagieren, um handlungs- und bewegungsfähig zu werden. Die Anforderungen werden von Urgestalt zu Urgestalt komplexer und führen den kleinen Menschen vom Liegen über das Krabbeln und Sitzen zum Stehen und Gehen. Stehen und Gehen sind das Ziel der menschlichen Entwicklung innerhalb der Evolution und innerhalb der frühkindlichen Entwicklung und daher – nach Definition von G.O. van de Klashorst – keine Urgestalten.

Die Voraussetzung für effiziente Musikermotorik
Dauer und Anzahl der Erfahrungen, die der kleine Mensch benötigt, um eine Urgestalt zu erreichen, sind individuell. Daher sind die aus der jeweiligen Urgestalt erwachsenden äußeren Haltungs- und Bewegungsformen ebenso individuell. Der aufrechte Stand und die Fähigkeit, auf zwei Beinen zu gehen definieren die menschliche Gestalt, die jeden Menschen in seiner Individualität auszeichnet und ihn gleichzeitig mit allen anderen Menschen als solcher verbindet. Jeder kleine Mensch lernt, disponiert zu stehen und gehen, weil er die dazu nötigen Urgestalten in der von der Natur vorgesehenen Reihenfolge erwerben konnte. Die Effizienz unserer Musikermotorik ist davon abhängig, ob unsere musikerspezifischen Bewegungsabläufe auf einer solchen – disponierten – Gesamtmotorik aufbauen, in der die Kompetenzen der Urgestalten verinnerlicht sind.

Die Übungen der Urgestalten von Haltung und Bewegung
G.O. van de Klashorst ersann in den 1950er-Jahren die Übungen der Urgestalten von Haltung und Bewegung, um mögliche unbewusst entstandene Defizite im gesamtmotorischen Verhalten zu schließen. In diesen Übungen bietet sich Musikern die einzigartige Gelegenheit, den Urgestalten, welche für die Musikermotorik von elementarer Wichtigkeit sind, erneut zu begegnen. G.O. van de Klashorst reduzierte dafür die Entwicklungsschritte auf die Urgestalten der Haltungen im Liegen, im Krabbeln und im Sitzen und die Urgestalten der Bewegungen auf das Beugen und Neigen. In der Haltung der jeweiligen Urgestalt schließen sich Übungen für elementare Bewegungserfahrungen mit Füßen und Händen an. Im Laufe der Übungen wird eine vorbereitende Bewegungskompetenz für die spezifischen hochkomplexen, feinmotorischen Bewegungsabläufe am jeweiligen Instrument geschaffen und es lassen sich grundlegende Aspekte der Atmung und Luftführung erleben. Musikerinnen und Musiker erwerben die Fähigkeit, jegliche Notwendigkeiten der Luftführung am jeweiligen Blasinstrument oder mit der Stimme auf disponierte Art und Weise zu erfüllen und dabei dem jeweiligen Luftwiderstand zu begegnen. Die Übungen der Urgestalten von Haltung und Bewegung vereinen sowohl die Möglichkeit für Musiker:innen, ihre Motorik von hemmenden Aspekten zu befreien als auch ein präventives Bewusstsein zu erlangen. Mit diesen Haltungs- und Bewegungskompetenzen werden Musiker:innen zu Bewegungskünstler:innen.