Möglichkeiten zur Steigerung der individuellen Haltungs- und Bewegungsökonomie beim Musizieren
von Joachim Schiefer – Artikel auch als pdf in der Bibliothek
Wir Musikerinnen und Musiker haben einen wunderbaren Beruf. Kreativität, Inspiration, Emotion, Fantasie und Klanggestaltung ermöglichen die Interpretation der Werke der großen musikalischen Genies aus den letzten Jahrhunderten und der Gegenwart. Musik ist eine unmittelbare und universelle Kommunikationsmöglichkeit, die ohne Sprache auskommt und tiefe Emotionen auslöst. Unser Musikerleben ist getragen von einer niemals endenden Suche nach Vollkommenheit, Klangschönheit, universeller Weisheit und Wahrhaftigkeit.
Die Grundlage für all diese fantastischen Möglichkeiten und Aufgaben liefert die Musikermotorik. Unter Musikermotorik verstehe ich sämtliche Aspekte aus Körperhaltung, Atemführung und komplexen Finger- oder Lippenbewegungen, die es zu erlernen gilt, um die Musik mit unseren Instrumenten oder Stimmen zum Klingen zu bringen. Wie in kaum einer vergleichbaren Tätigkeit fordern professioneller Gesang und Instrumentalspiel vom menschlichen Gehirn und den angesteuerten Strukturen permanente Höchstleistungen. Präzision im Mikromillimeterbereich, differenzierteste Abstufungen in der Fingermotorik, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit zwischen den Händen und einzelnen Fingern, mühelose Kontrolle des Luftstroms, der Stimmbänder und Lippenstellungen bei maximaler Expression und Geschwindigkeit, das sind die Fähigkeiten, die unser Beruf erfordert. Absolute Höchstleistungen in mannigfaltiger Hinsicht, welche sich ständig an den Grenzen des Machbaren orientieren. Unser Musikerleben ist somit gleichsam getragen von einzigartigen Lebensgefühlen und extremen Anforderungen an die Motorik.
Wie ist eine solche Virtuosität zu erreichen und wie lässt sie sich ein Musikerleben lang erhalten, ohne dass es zu Überlastung, Verspannungen, Schmerzen, Spielproblemen, Blockaden oder dem Kontrollverlust in einzelnen Aspekten der Motorik kommt?
Viele Wege führen nach Rom! Und ähnlich vielfältig sind die Wege, die uns zu Musikerinnen und Musikern werden lassen. Es ist mir ein wichtiges Anliegen hier zu betonen, dass ich jede Musikerin und jeden Musiker vorbehaltlos bewundere, die oder der einen Weg für sich gefunden hat, seine Berufung als Künstlerin oder Künstler leben zu können. Falls jemand über eine sehr belastbare Konstitution verfügt und dadurch keinerlei Einschränkungen wahrnimmt, obwohl das Spiel sehr viel Kraft erfordert, schätze und bewundere ich sein Künstlertum uneingeschränkt. Ja, ich wünschte geradezu, solches wäre uns allen in gleicher Weise vergönnt. Leider weiß ich nicht nur aus eigener Erfahrung, dass das nicht immer so ist und sich auch im Laufe der Jahre ändern kann. Belastbarkeit und Konstitution sind sehr unterschiedlich und können abnehmen, beispielsweise in zunehmendem Alter. Und dann kann es passieren, dass wir Musiker in tiefe Krisen stürzen, da jegliche Einschränkung unserer motorischen Fähigkeiten eine Katastrophe darstellt. Dauern die Probleme an, wird uns die Lebensgrundlage genommen. Und hier möchte ich Hilfe anbieten: Einerseits dahingehend, möglichst früh unsere präventiven Kompetenzen zu stärken, und andererseits mit Angeboten, die aus einer – wie auch immer gearteten – Einschränkung der Musizierfähigkeit heraushelfen. Jedoch verfüge ich über keinerlei medizinische Kompetenz, sondern bin ausschließlich pädagogisch tätig und kann daher akute pathologische Prozesse nicht beurteilen und schon gar nicht behandeln. Meine Kompetenz liegt darin, hemmende oder schädigende Einflüsse auf die Musikermotorik nachhaltig abzustellen, indem die Ursachen dafür erkannt werden. Unsere Musikermotorik ist hoch komplex, und daher ist es leider unmöglich, generell gültige Aussagen darüber zu treffen, welche Aspekte überlastend wirken. Jeder Mensch ist einzigartig in seiner Anatomie, Belastbarkeit und Begabung. Es gibt zahllose Methoden, Lehren und pädagogische Konzepte, welche ganz unterschiedlichen Ansätzen folgen, und aus allen sind hervorragende Musiker hervorgegangen. Nicht wenige Konzepte basieren dabei primär auf Training und Kräftigung der beteiligten Strukturen durch zahllose Wiederholungen von Bewegungsabläufen. Meine eigene Spielunfähigkeit und die erfolgreiche Arbeit mit hunderten Kolleginnen und Kollegen haben mich von einem anderen Ansatz überzeugt.
Bereits 1999 gründete ich in Wuppertal unter dem Namen Musik und Disposition ein Studio für Bewegungspädagogik und Instrumentalergonomie. 2022 erweiterte ich das Konzept und benannte mein Studio in Institut für Musikermotorik um. Bis heute konnte ich hunderten Musiker:innen helfen, ihre berufsbedingten Spielprobleme, Verspannungen, Schmerzen, Atem- oder Ansatzschwierigkeiten zu überwinden. Von Beginn an lag auch die Entwicklung von Lösungsstrategien für Musiker:innen mit unwillkürlichen Bewegungsstörungen und Musikerdystonien (Fokale Dystonie) im Fokus.
Im Institut für Musikermotorik suchen wir nach maximaler Effizienz und nutzen dabei die Erkenntnisse des niederländischen Pianisten und Physiotherapeuten G.O. van de Klashorst, welche er in der Dispokinesis versammelte. Dispokinesis ermöglicht es uns Musikerinnen und Musikern, ein Maximum an Klangfülle, Dynamik, Perfektion, Geschwindigkeit und Expression mit einem Minimum an muskulärem Kraftaufwand zu erreichen. Durch das funktionelle Verständnis der Musikermotorik als Teil in der gesamtheitlichen Betrachtung der menschlichen Motorik wird es möglich, die Belastung in Muskulatur, Sehnen, Gelenken, Kapseln und Bändern sowie an Lippen, Stimmlippen und im Atemstützsystem auf das nötige Minimum zu reduzieren, wobei klar wird, dass dies ohne eine angemessene Körperhaltung nicht funktionieren kann.
Mit den Übungen der Urgestalten von Haltung und Bewegung nach G.O. van de Klashorst können notwendige Grundlagen in der Haltungs- und Bewegungskompetenz verankert werden. Durch diese Übungen erwerben Musikerinnen und Musiker die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Selbstanalyse als Basis für Veränderungen in der jeweiligen Atem- und Spielmotorik. Das Wissen um die Zusammenhänge von Körperhaltung und Atemfunktion bietet Sänger:innen und Bläser:innen die Möglichkeit, ihre Vorstellungen von Atmung, Luftführung sowie über den Ansatz zu analysieren und hemmende bzw. überlastende Aspekte zu erkennen. Der Unterricht wirkt präventiv hinsichtlich Situationen von steigender beruflicher oder mentaler Belastung und ermöglicht ein Musikerleben frei von indisponierenden Einflüssen. Im Laufe der Arbeit kann die Optimierung der Ergonmie eine wichtige Rolle spielen. So besteht ein weiterer Schwerpunkt meiner Arbeit in der Beratung über geeignete ergonomische Produkte, die bei Bedarf individuell angepasst werden, damit unnötige und somit indisponierende Haltekräfte wegfallen. Im Institut verfüge ich mittlerweile über mehr als 50 in der Praxis bewährte Hilfsmittel, welche an meinem Instrumentarium (etwa 60 Instrumente von Blockflöten über Violinen, Celli, Kontrabass, Posaune, Horn, Trompete, Klarinette, Oboe, Klavier und Flügel) montiert und ausgiebig getestet werden können, bevor das Produkt dann gegebenenfalls an das wertvolle Instrument angebaut wird.
Manche Fehlbelastungen resultieren aus falschen Annahmen zur Funktion des Instrumentes. Daher interessiert es mich, wie die einzelnen Instrumente ihren Klang und ihre dynamischen Möglichkeiten entfalten können. Im Fokus steht auch hier den minimal nötigen Aufwand zu verstehen und erleben zu können. Diese „Klang“-Physik ist ein weites Feld, wo noch spannende Entdeckungen und Erkenntnisse möglich sind. Bislang konnte ich durch Messungen der jeweiligen zur Bedienung nötigen Zug- und Druckkräfte an Saiten, Klappen oder Tasten damit beginnen zu verstehen, mit wie wenig Muskelkraft das Instrument seine größte Varianz an Dynamik und Klangfarben erreicht. Solche Erkenntnisse bieten eine große Hilfe beim Lernprozess zur Optimierung der spieltechnischen Bewegungsvorstellungen oder bei der Reedukation von schweren Stereotypen und Musikerdystonien.
Mit dem Institut für Musikermotorik entstand ein internationales Netzwerk für Musikermotorik mit dem Ziel die Zusammenarbeit mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern zu intensivieren und die internationale Vernetzung mit Spezialist:innen unterschiedlichster Fachkompetenzen auszubauen.
Ein weitgefächertes Angebot an Kursen, Seminaren und Workshops rundet mein Angebot ab und bietet etwa Musikhochschulen, Universitäten, Musikschulen und Orchestern Gelegenheit, Studierenden, Mitarbeitenden oder dem Kollegium ein präventives Bewusstsein zu vermitteln.